
Plenarvorträge
Freitag, 22. Oktober 2021, 15:30 Uhr
Karen Schramm (Wien)
Spotlight auf das mentale Handeln: Zum triangulativen Mehrwert des videobasierten Lauten
Videoaufnahmen erlauben die Dokumentation von L2-Interaktionen und geben Aufschluss über weite Teile des sprachlichen Handelns: die verbale, nonverbale und aktionale Dimension. Allerdings ermöglichen sie nur wenige, bestenfalls indirekte Einsichten in die mentale Dimension des sprachlichen Handelns, die für die L2-Erwerbsforschung und Fremdsprachendidaktik ebenfalls von besonderem Interesse ist. Eine Triangulation von Beobachtungs- mit Befragungsdaten in Form des videobasierten Lauten Erinnerns bietet deshalb besonderes Potenzial, um individuelle Perspektiven auf L2-Interaktionen auszuleuchten. In meinem Vortrag möchte ich nach einem kurzen Überblick über den forschungsmethodischen Diskussionsstand zum Thema videobasiertes Lautes Erinnern an ausgewählten DaF-Studien den Mehrwert eines solchen triangulativen Vorgehens illustrieren.
Knorr, Petra; Schramm, Karen (2012). Datenerhebung durch Lautes Denken und Lautes Erinnern in der fremdsprachendidaktischen Empirie. In: Doff, Sabine (Ed.), Fremdsprachenunterricht empirisch erforschen: Grundlagen, Methoden, Anwendung (184–201). Tübingen: Narr.
Freitag, 5. November 2021, 13:15 Uhr
Susanne Günthner (Münster)
Zur Schnittstelle von Interaktionaler Linguistik und DaFZ: Kommunikative Praktiken in der Hochschulinteraktion am Beispiel universitärer Sprechstundengespräche
Dieser Beitrag zielt darauf ab, die Relevanz interaktionslinguistischer Analysen für Forschung und Lehre im Bereich DaFZ aufzuzeigen und zu skizzieren, wie sequenzanalytische Methoden und Konzepte der Interaktionalen Linguistik mit Fragen der DaFZ-Forschung – im Bereich der Hochschulkommunikation – vernetzt werden können.
Gerade der Forschungsbereich der sprach- und kulturkontrastiven interaktional ausgerichteten Linguistik (Günthner & Linke 2006; Günthner 2018), der an der Schnittstelle von Analysen authentischer Interaktionen, kontextkontingentem Sprachgebrauch, Universalien zwischenmenschlicher Interaktion (human interaction engine; Levinson 2006) bzw. sprach- und kulturspezifischen Realisierungen kommunikativer Gattungen und Praktiken angesiedelt ist, liefert m.E. wichtige Grundlagen für eine interaktional ausgerichtete DaFZ-Forschung und -Lehre.
Auf der Basis der kommunikativen Gattung universitärer Sprechstundengespräche werde ich in diesem Vortrag konversationelle Aktivitäten – insbesondere Eröffnungs- und Beendigungssequenzen – präsentieren, um zu verdeutlichen, wie Analysen authentischer Hochschulinteraktionen für eine DaFZ-bezogene Interaktionsforschung genutzt werden können.
Im Anschluss an die Präsentation einer empirischen Studie erfolgt eine kurze Vorstellung der an meinem Lehrstuhl angesiedelten Plattform „Gesprochenes Deutsch: Authentische Interaktionen für die Forschung und Praxis im Bereich DaF und DaF„, die sowohl der Forschung als auch Lehre im Bereich DaFZ zur Verfügung steht.
Günthner, Susanne; Linke, Angelika (2006): Linguistik und Kulturanalyse – Ansichten eines symbiotischen Verhältnisses. Zeitschrift für Germanistische Linguistik 34, 1-27.
Günthner, Susanne (2018): Perspektiven einer sprach- und kulturvergleichenden Interaktionsforschung: Chinesische und deutsche Praktiken nominaler Selbstreferenz in SMS-, WhatsApp- und WeChat-Interaktionen. Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion 19, 478-514.
Levinson, Stephen (2006): On the Human ‚Interaction Engine‘. In: Enfield, Nicholas; Levinson, Stephen (Eds.): Roots of Human Sociality. Culture, Cognition and Interaction. Oxford / New York: Berg, 39-69.
Samstag, 6. November 2021, 12:15 Uhr
Juliane House (Hamburg & New Hampshire, USA)
Cross-Cultural Pragmatics: Ein neuer sprach- und kulturvergleichender Ansatz
In diesem Vortrag werde ich einen Überblick über einen neuen Ansatz im Bereich Cross-Cultural Pragmatics geben (House & Kadar 2021). Cross-Cultural Pragmatics umfasst den Gebrauch von Sprache in verschiedenen kulturellen Kontexten. Forschungen in diesem Bereich sind wichtig für Übersetzen und Dolmetschen, Interkulturelle Kommunikation und das Lehren und Lernen von Fremd- und Zweitsprachen. Für all diese Bereiche ist Cross-Cultural Pragmatics seit langem ein bedeutender Forschungsbereich, der heute jedoch besonders wegen der hier oft verwendeten dekontextualisierten Daten heftig kritisiert worden ist. Es scheint daher notwendig, diesen Bereich neu zu beleben mit einem innovativen Ansatz, in dem sprachliche Ausdrucksformen, Sprechakte, Sprechaktsequenzen und diskursive Praktiken in einer integrativen Methodologie vereint werden.
House, Juliane; Kadar, Daniel (2021): Cross-Cultural Pragmatics. Cambridge: Cambridge University Press.
Vorträge
Freitag, 5. November 2021, 14:15 Uhr
Maxi Kupetz (Halle)
Multimodalität und Sequenzialität im DaZ-Unterricht – Methodische Überlegungen am Beispiel des Semantisierens-in-Interaktion
Es ist keine neue Erkenntnis, dass sich Bedeutung situiert und unter Rückgriff auf verschiedene semiotische Ressourcen konstituiert. Für Unterrichtsinteraktion gibt es beispielsweise konversationsanalytisch ausgerichtete Untersuchungen, die zeigen, wie sich aus multimodaler Bedeutungskonstitution Lerngelegenheiten ergeben (vgl. Hall & Looney 2019; Kern et al. 2019; Majlesi 2015). Auch in DaF- und DaZ-Didaktiken sowie im Kontext von sprach- und fachintegriertem Unterricht wird vielfach darauf verwiesen, dass der Einsatz von visuell wahrnehmbaren Ressourcen, z.B. Gesten und Bildern, lernförderlich sei (z.B. Brinitzer et al. 2013). Die Rolle des Zusammenspiels von sequentiellem Verlauf der Unterrichtsinteraktion und dem Einsatz verschiedener semiotischer (d.h. multimodaler) Ressourcen bleibt dabei weitestgehend unberücksichtigt. Dabei zeigt sich in der (detaillierten) sequenziellen Analyse von Unterrichtsinteraktion z.B. für den Verlauf von Instruktionen, dass das Verhältnis von gestischen, sprachlichen und materiellen Ressourcen keineswegs immer spannungsfrei ist (Kupetz 2021).
Im vorliegenden Beitrag geht es darum, mit Sequenzialität und Multimodalität zwei konstitutive Mechanismen von sozialer Interaktion darzustellen und ihre Bedeutung für Interaktion in DaFZ zu explizieren. Es soll insgesamt deutlich werden, weshalb die Analyse von Multimodalität und Sequenzialität für ein tiefes Verstehen von DaFZ-Unterricht unerlässlich ist. Dafür werden Fälle einer typischen kommunikativen Aufgabe, nämlich des Semantisierens, herangezogen. Die Fälle stammen aus zwei Unterrichtssettings, zum einen aus DaZ-Förderunterricht, in dem kürzlich migrierte Schüler*innen individuell oder in Kleingruppen unterrichtet werden, und zum anderen aus sprach- und fachintegriertem Unterricht im Rahmen einer MINT-Projektwoche in einer Internationalen Klasse (Willkommensklasse). Videodaten aus beiden Unterrichtssettings sind Teil des IKuL-Korpus, das 2018 und 2019 am Germanistischen Institut der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg erhoben wurde (ebd.). Anhand von Beispielen verschiedener Formen des Semantisierens-in-Interaktion lassen sich die Chancen, Herausforderungen und Grenzen multimodaler und sequentieller Analysen von DaFZ-Unterricht diskutieren, sowohl in forschungsmethodischer Hinsicht als auch im Hinblick auf den Praxistransfer bzw. didaktische Überlegungen.
Brinitzer, Michaela; Hantschel, Hans-Jürgen; Kroemer, Sandra; Möller-Frorath, Monika; Ros, Lourdes (2013): DaF unterrichten – Basiswissen Didaktik Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Stuttgart: Klett.
Hall, Joan Kelly; Looney, Stephen Daniel (2019): Introduction: The Embodied Work of Teaching. In: Hall, Joan Kelly; Looney, Stephen Daniel (Eds.): The Embodied Work of Teaching. Bristol (UK) u.a.: Multilingual matters, 1-14.
Kern, Friederike; Ohlhus, Sören; Rottmann, Thomas (2017): Zur Rolle von Sprache und multimodalen Ressourcen beim Erwerb von Rechenstrategien. In: Ahrenholz, Bernt; Hövelbrinks, Britta; Schmellentin, Claudia (Eds.): Fachunterricht und Sprache in schulischen Lehr-/Lernprozessen. Tübingen: Narr Francke Attempto, 225-245.
Kupetz, Maxi (2021): Multimodalität und Adressatenorientierung in Instruktionen im DaZ- und fachintegrierten Unterricht. Gesprächsforschung – Online-Zeitschrift zur verbalen Interaktion (22), 348-389.
Majlesi, Ali Reza (2015): Matching gestures – Teachers’ repetitions of students’ gestures in second language learning classrooms. Journal of Pragmatics (76), 30-45.
Freitag, 5. November 2021, 15:15 Uhr
Lesya Skintey (Koblenz)
Conversation Analysis for Second Language Acquisition (CA-SLA): Potenziale und Grenzen der Methode zur Erforschung von Interaktionen im Kontext von DaFZ
Nach dem bahnbrechenden Aufsatz von Firth und Wagner (1997) wird conversation analysis for second language acquisition (CA-SLA) als Methode zur mikrogenetischen Rekonstruktion des sprachlichen Lernens sowohl in institutionellen als auch in natürlichen Interaktionskontexten genutzt (Pekarek Doehler 2020). Während die CA-SLA im angelsächsischen Raum bereits als eine etablierte Methode angesehen wird, kommt sie in der deutschsprachigen Sprachlehr- und -lernforschung deutlich seltener zum Einsatz (vgl. jedoch Schwab 2009; Skintey 2020a; Skintey 2020b; zur Nutzung diskursanalytischer Methoden in der Forschung zur Fremdsprachendidaktik siehe Schwab & Schramm 2016).
Der Beitrag geht auf die Gründe für dieses zögernde Interesse ein. Nach einer kurzen Skizzierung der theoretischen Grundlagen der Methode, die ihre Wurzeln zum einen in der ethnomethodologischen Konversationsanalyse und zum anderen (insbesondere in ihrer Ausprägung als developmental CA-SLA) in soziokulturellen Ansätzen hat, werden Prämissen und das methodische Vorgehen der longitudinal CA-SLA vorgestellt. Anhand ausgewählter Beispielanalysen aus Kind-Kind- und Kind-Erzieher*in-Interaktionen im Kontext des Zweitspracherwerbs sollen sowohl die turn by turn-Ko-Konstruktion von doing learning-Interaktionen rekonstruiert als auch Änderungen im Partizipationsverhalten der Zweitsprachenlernenden aufgezeigt werden. Im Anschluss an den Vortrag sollen Potentiale und Grenzen der Anwendung der CA-SLA zur Untersuchung natürlicher Interaktionen im Zweitspracherwerb diskutiert werden.
Pekarek Doehler, Simona (2020): Conversation analysis and second language acquisition: CA- SLA. In: Chapelle, Carol A. (Eds.): The concise encyclopedia of applied linguistics. West Sussex: John Wiley & Sons.
Schwab, Götz (2009): Gesprächsanalyse und Fremdsprachenunterricht. Landau: Verlag Empirische Pädagogik.
Schwab, Götz; Schramm, Karen (2016): Diskursanalytische Auswertungsmethoden. In: Caspari, Daniela; Klippel, Friederike; Legutke, Michael K.; Schramm, Karen (Eds.): Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik. Ein Handbuch. Tübingen: Narr Francke Attempo Verlag, 280–297.
Skintey, Lesya (2020a): CA und SLA: eine glückliche Ehe? Was kann CA- SLA zur Erforschung des zweitsprachlichen Lernens in natürlichen Interaktionen leisten? In: Eisenmann, Maria; Steinbock, Jeanine (Eds.): Sprache, Kulturen, Identitäten: Umbrüche durch Digitalisierung? Baltmannsweiler: Schneider Verlag Hohengehren, 271–289.
Skintey, Lesya (2020b): Zweitspracherwerb im Kindergarten aus der Community-of-Practice-Perspektive: Ressourcen, Praktiken, Positionierungen. Münster und New York: Waxmann
Freitag, 5. November 2021, 16:00 Uhr
Madeleine Domenech (Berlin) & Ann-Christin Leßmann (Bielefeld)
Über’s Texte Schreiben sprechen: Gesprächsanalytische Rekonstruktion schreibdidaktischer Normen in DaZ-Lernkontexten der Grundschule
Sprachliche Interaktion in der Zielsprache Deutsch spielt nicht nur in gesteuerten Unterrichtskontexten zur Aneignung mündlicher Sprachkompetenzen eine Rolle; sie ist stets zentraler Nexus des Lerngeschehens. So werden hier implizit bspw. bestimmte Sprach(verwendungs)normen etabliert (siehe z.B. Leßmann 2020), die oft als „Eintrittskarte“ (Morek & Heller 2012) für fachliche und sprachliche Bildungsprozesse fungieren. Sie sind damit insbesondere unter der Perspektive partizipationsorientierten didaktischen Handelns, bspw. im Kontext von Deutsch als Zweitsprache, hochrelevant.
Zur Untersuchung solcher Dimensionen von Unterrichtsinteraktion eignen sich gesprächsanalytische Zugänge besonders, da sie nicht von normativen Annahmen über sprachliche Anforderungen ausgehen, sondern zunächst die „Unterrichtswirklichkeit“ (Becker-Mrotzek & Vogt 2009) bzw. die jeweiligen kommunikativen Praktiken beschreiben, um in einem zweiten Schritt zur Reflexion sprachlichen Handelns zu kommen und anschließend empirisch fundierte, didaktische Implikationen abzuleiten (siehe auch Becker-Mrotzek & Vogt 2009). Dabei werden neben den sprachlichen Formen insb. auch die kontextuellen Funktionen unterrichtlicher Praktiken fokussiert (siehe z.B. Leßmann 2020; Morek & Heller 2012). Gerade diese Kombination einer empirisch fundierten, deskriptiven Ausrichtung sowie die Betrachtung sprachlicher Äußerungen im sozial-interaktiven Kontext macht die Stärke dieser Methode aus. Eine Schwäche ist sicherlich, dass die Gesprächsanalyse allein das rekonstruiert, was auf der sprachlichen und multimodalen Oberfläche von den Interaktanten hervorgebracht wird. Insbesondere für die Reflexion fachlicher Inhalte und der Entwicklung didaktischer Implikationen bedarf es daher ergänzender methodischer Ansätze.
In unserem Vortrag möchten wir dieses komplexe Zusammenspiel am Beispiel von videographierten Unterrichtssequenzen aus dem Grundschulunterricht aus dem Projekt LisFör (Literalität und Interaktion in der Sprachförderung) untersuchen, in denen eine Lehrperson mit einzelnen Kindern mit (zweit)sprachlichem Förderbedarf über das Schreiben von Texten, konkret über die Überarbeitung einer Bildergeschichte, spricht. Auf übergeordneter Ebene geht es bei der Analyse u.a. um die Fragen, welche Praktiken der Lehr-Lern-Interaktion zu beschreiben sind oder welche fachlichen Inhalte in welcher Form vermittelt werden. Auf den schreibdidaktischen Gegenstand bezogen bedeutet dies z.B., welche Normen sich in Bezug auf Textqualität, Schreibprozess oder bestimmte Textsortenmerkmale in den Daten rekonstruieren lassen.
Diese Schnittstelle vom Sprechen über das Schreiben und diversitätssensibler Schreibdidaktik in der Primarstufe wurde unseres Wissens nach bisher kaum untersucht (siehe z.B. Heller 2021 für das Sprechen über literarische Texte). Durch diese innovative Kombination erhoffen wir uns sowohl methodische als auch schreibdidaktisch nutzbare Erkenntnisse zur weiteren Bearbeitung dieses ontogenetisch als auch edukativ hochrelevanten Abschnitts der Schreibentwicklung – gerade für Schreibende mit individuellen und familiären unterschiedlichen Ausgangsbedingungen bzw. Ressourcen (siehe z.B. Domenech 2019).
Becker-Mrotzek, Michael; Vogt, Rüdiger (2009): Unterrichtskommunikation: Linguistische Analysemethoden und Forschungsergebnisse. 2. Auflage Tübingen: Niemeyer.
Domenech, Madeleine (2019): Schriftsprachliche Profile von Fünftklässlern: Argumentative Briefe im Zusammenspiel unterschiedlicher textueller, familiärer und individueller Ressourcen. Berlin: de Gruyter.
Heller, Vivien (2021): Das Sprechen über Texte als kulturelle Praktik. In: Der Deutschunterricht 1, 54-63.
Leßmann, Ann-Christin (2020): Unterrichtsinteraktion in der Grundschule: Sequenzielle Analysen zur Ko-Konstruktion von Angemessenheit zwischen Lehrenden und Lernenden. Tübingen: Stauffenburg.
Morek, Miriam; Heller, Vivien (2012): Bildungssprache: Kommunikative, epistemische, soziale und interaktive Aspekte ihres Gebrauchs. Zeitschrift für angewandte Linguistik 57/1, 67-101.
Samstag, 6. November 2021, 08:45 Uhr
Dietmar Rösler (Gießen) & Tamara Zeyer (Kassel)
Aufzeichnungen von Interaktionen im Online-Unterricht: Die Perspektiven der Lehrenden und die Perspektiven der Lernenden im Vergleich
Unterrichtsforschung hat eine lange Tradition, allerdings lag der Fokus von Forschung ebenso wie der von unterrichtlichen Aktivitäten bisher hauptsächlich auf Unterricht, bei dem Lehrende und Lernende sich gemeinsam in einem Raum in einer Bildungsinstitution aufhielten. In der Pandemie-Zeit wurde auf Unterricht im virtuellen Raum umgestellt, oft mit einer sehr geringen ‚Vorwarnzeit‘ für die beteiligten Personen. Die neuen Gegebenheiten warfen viele Fragen auf: Welche Konsequenzen hat das Eindringen von Unterricht in den privaten Raum der Lernenden? Wie organisiert man den Unterricht im virtuellen Raum? Welche Werkzeuge stehen Lehrenden und Lernenden im Fremdsprachenunterricht zur Verfügung? Wie agieren Lehrkräfte bei „Nicht-Interaktionen“, wenn seitens der Lernenden keine Reaktion auf eine Frage oder Arbeitsanweisung erfolgt und es aufgrund ausgeschalteter Kameras unklar bleibt, was die Gründe hierfür sind? Mit derartigen Fragen beschäftigen wir uns im Rahmen eines vom Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten Projekts zum Deutscherwerb geflüchteter Studieninteressierter. Erste Analyseergebnisse des Forschungsprojektes (Rösler & Zeyer 2021), die sich auf die Interaktionsprozesse im virtuellen DaF-Unterricht beziehen, konzentrieren sich auf den Übergang von Stillarbeit zum gemeinsamen Arbeiten, auf den Umgang der Lehrkräfte mit Nachfragen der Lernenden und Fehlern und auf den Übergang von der Arbeit an einer formfokussierten Übung zur freien Diskussion über für die Lernenden relevante Themen. In unserem Beitrag möchten wir uns vor allem mit der Bedeutung des veränderten Unterrichtsraums für die Aufnahme und Auswertung von Daten befassen.
In der klassischen Unterrichtsforschung mit Videografie werden Unterrichtsprozesse dokumentiert, die im Blickwinkel der Kamera(s) sind. Werden nur wenige Kameras verwendet, von denen eine auf die Lehrkraft gerichtet ist, kann es leicht dazu kommen, dass dieser in der Analyse der Daten sehr viel Aufmerksamkeit geschenkt wird. Schramm (2014: 243) grenzt videobasierte Unterrichtsbeobachtung in authentischen Kontexten von Forschungsdaten „videographierter Tastatur- oder Lautdenkprotokolle“ ab, da erstere sich „vor allem zur Erforschung der interaktionalen bzw. sozialen Dimension des Fremd- und Zweitsprachunterrichts“ eigneten, während die Analyse von Videodaten wie Bildschirmaufzeichnungen eher den Einblick in die Erwerbsprozesse einzelner Personen (vgl. ebd.) ermögliche. Diese Unterscheidung war und ist richtig und wichtig, es stellt sich jedoch für die aktuelle Lage bezogen auf digitalisierten Unterricht die Frage: Wie können dann Unterrichtsprozesse und Interaktionen im virtuellen Raum angemessen erfasst und analysiert werden?
Der Vortrag konzentriert sich auf einen besonders interessanten Aspekt unserer Datenerhebung: Die Perspektiven der Lehrkraft und der Lernenden konnten über den gesamten Unterrichtsverlauf hinweg aufgenommen werden, die individuellen Klicks und Chateinträge und die parallel zur Videokonferenz geöffneten Programme und Webseiten wurden festgehalten. Auch der Einfluss der verwendeten unterschiedlichen Endgeräte wird deutlich. Neben der Analyse der Interaktionsprozesse im Laufe des Unterrichts wurde so der Einblick in die Aktivitäten einzelner Personen und dadurch eine Annäherung an die die Interaktionen beeinflussenden Faktoren ermöglicht.
Rösler, Dietmar; Zeyer, Tamara (2021): Ich! – Wer ich? Zur Interaktion im Online-Unterricht. InfoDaF, Heft 5.
Schramm, Karen (2014): Besondere Forschungsansätze: Videobasierte Unterrichtsforschung. In: Settinieri, Julia u.a. (Ed.): Empirische Forschungsmethoden für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache. Eine Einführung. Paderborn: Schöningh, 243–254.
Samstag, 6. November 2021, 09:30 Uhr
Olga Czyzak (Kashiwa, Japan)
Videobasiertes Lautes Erinnern als Zugang zu einem besseren Verständnis von Peer-Interaktionen
Die Zusammenarbeit von Lernenden sowohl zu zweit als auch in Kleingruppen bildet einen festen Bestandteil des modernen Fremdsprachenunterrichts. Der didaktische Nutzen von Interaktionen unter Peers wurden vielfach in der Theorie diskutiert sowie anhand empirischer Studien belegt. Neben positiven Auswirkungen auf die Sozialkompetenz wie etwa einer verbesserten Kommunikations- und Konfliktfähigkeit wird insbesondere Aushandlungsprozessen, die in solchen Peer-Konstellationen stattfinden, eine besondere Bedeutung zur Schaffung von Lerngelegenheiten beigemessen. So wird etwa in den Language Related Episodes der Fokus der Beteiligten auf neue sprachliche Phänomene gelenkt (u.a. Swain & Lapkin 1998), während Ko-Konstruktionen den Lernenden ermöglichen, Äußerungen gemeinsam aufzubauen, die sie allein (noch) nicht im Stande sind zu formulieren (u. a Foster & Ohta 2005). Im Idealfall führen solche Aushandlungen zu einem positiven Lernerlebnis und zur nachhaltigen Übernahme der interaktiv bearbeiteten sprachlichen Formen und Themen in das eigene Repertoire.
Im Unterrichtsalltag gestalten sich soziale Lernsettings jedoch nicht immer so erfolgreich. Lehrkräfte und Forschende beobachten Arbeitsphasen, in denen kaum gesprochen wird. Lernende hinterfragen die Redebeiträge ihrer Peers nicht oder lassen fehlerhafte Äußerungen unkommentiert stehen. Anstatt einander zu helfen, bemühen sich die einzelnen Gruppenmitglieder, ihre Äußerungen selbst mit Hilfe des Wörterbuchs zu konstruieren und die Potentiale von Interaktionen unter Lernenden scheinen ungenutzt zu bleiben.
In einer Studie zu Gruppenarbeitsphasen im Anfängerunterricht im Rahmen eines Dissertationsprojektes konnte gezeigt werden, wie potentielle Gesichtsbedrohungen solchen – aus Sicht der Fremdsprachendidaktik wertvollen – Aushandlungsprozessen hinderlich werden können. Die Datenbasis der Untersuchung setzt sich aus Interaktionsdaten von Gruppenarbeitsphasen im Anfängerunterricht an einer japanischen Universität und retro- bzw. introspektiven Daten einzelner Gruppenmitglieder zusammen. Die introspektiven Daten wurden mit Hilfe des Verfahrens Videobasiertes Lautes Erinnern (VLE) bzw. Stimulated Recall (u. a. Heine & Schramm 2016) erhoben und konnten entscheidende Hinweise zur Interpretation der Vorgänge unter den Lernenden liefern.
Im Beitrag sollen nach einer knappen theoretischen Rahmung zunächst die Vorüberlegungen, die der Datenerhebung vorausgegangen sind, dargestellt und anschließend anhand ausgewählter Datenbeispiele das Zusammenspiel beider Datensätze bei der Analyse und Interpretation der Interaktionen verdeutlicht werden. Neben der Möglichkeit interaktive Prozesse sichtbar zu machen, die ohne Hinweise aus den VLE-Daten verborgen geblieben wären, werden im Verlauf des Forschungsprozesses auch inhärente Limitationen der Erhebungsmethode evident, die sich auch auf die gewonnenen Daten auswirken, wie etwa soziale Erwünschtheit und Gesichtswahrungsstrategien der Untersuchungsteilnehmenden gegenüber der Forscherin. Abschließend soll auf dieser Grundlage die Aussagekraft der Daten in Bezug auf das Erkenntnissinteresse reflektiert werden.
Foster, Pauline; Snyder Ohta, Amy (2005): Negotiation for Meaning and Peer Assistance in Second Language Classrooms. Applied Linguistics, 26(3): 402‒430.
Heine, Lena; Schramm, Karen (2016), Introspektion. In: Caspari, Daniela; Klippel, Friederike; Legutke, Michael K.; Schramm, Karen (Eds.) (2016): Forschungsmethoden in der Fremdsprachendidaktik ‒ Ein Handbuch. Tübingen: Narr, 173-181.
Swain, Merrill; Lapkin, Sharon (1998): Interaction and second language learning: Two adolescent French immersion students working together. The Modern Language Journal 82 (3), 320–337.
Samstag, 6. November 2021, 10:30 Uhr
Lisa Mauritz (Bielefeld)
Die (Online-)Gruppendiskussion als Datenerhebungsmethode zur Untersuchung der Interaktion zwischen kamerunischen und kenianischen Deutschlernenden im Kontext von Online-Begegnungsprojekten
Bereits Goffmann (1986: 7) beschreibt den Untersuchungsgegenstand der Interaktionsforschung treffend als „jene Ereignisse, die im Verlauf und auf Grund des Zusammenseins von Leuten geschehen“ und das Ziel der Analyse von diesen Ereignissen als „die Beschreibung natürlicher Interaktionseinheiten.“ Über die Frage, wie bei der Erforschung von Interaktion methodisch-methodologisch vorgegangen werden kann, herrscht jedoch bis heute Uneinigkeit (Imo 2013: 21f.). Dabei ist unbestritten, „dass Art, Umfang und Qualität der Interaktion zwischen allen Prozessbeteiligten untereinander der wesentlichste Erfolgs- (oder Misserfolgs-) -faktor im Fremdsprachenunterricht ist“ (Funk 2019: 74).
Vor diesem Hintergrund habe ich von 2017-2019 als DAAD-Lektorin ein digitales Filmprojekt koordiniert, das einen Online-Raum für die Interaktion zwischen DaF-Studierenden aus Kamerun und Kenia eröffnete, in dem über das kooperative Schreiben eines Drehbuchs und dessen filmischer Umsetzung in deutscher Sprache hinaus eine Reflexion des Eigenen in Auseinandersetzung mit dem Fremden angeregt werden sollte.
Die Interaktion, die im Rahmen dieses Projekts stattgefunden hat, erforsche ich nun in meiner Dissertation. Diese beschäftigt sich mit der Fragestellung, inwieweit Selbst- und Fremdkonzepte kamerunischer und kenianischer Deutschlernender durch die Interaktion im Kontext digitaler Begegnungsprojekte nachhaltig beeinflusst werden. Das Thema wird neben einer sozialpsychologischen aus einer soziokulturellen Perspektive betrachtet, weil hier nicht wie bei kognitiv-interaktionistischen Ansätzen die Prozesse der Informationsverarbeitung, sondern die soziale Interaktion sowie die fortschreitende Partizipation der kamerunischen und kenianischen Untersuchungsteilnehmenden an der (zielsprachlichen) Gemeinschaft, die sie selbst durch ihre gemeinsame Arbeit am Online-Filmprojekt bilden, im Zentrum des Interesses stehen (vgl. Ohm 2007).
Die Datenerhebung fand in Form von fünf Gruppendiskussionen statt: Das Projekt wurde 2018 in Form von zwei Fokusgruppen, die in beiden Ländern mit den jeweiligen Teilnehmenden in Präsenz durchgeführt wurden, wissenschaftlich ausgewertet. Im Jahr 2021 habe ich zwei weitere Fokusgruppen mit den ehemaligen Teilnehmenden des Filmprojekts durchgeführt, und zwar diesmal über das Videokonferenzprogramm Zoom.
Die Datenanalyse soll anhand der Dokumentarischen Methode erfolgen, anhand derer die verschiedenen Denk- und Handlungsmuster herausgestellt werden sollen, die in den jeweiligen Gruppen unmittelbar nach Ende des Projekts und drei Jahre später vorherrschen.
In meinem Beitrag möchte ich die Potenziale und Grenzen diskutieren, die mein methodisch-methodologisches Vorgehen für die Beantwortung meiner Fragestellung in sich birgt.
Funk, Hermann (2019): Feindliche Übernahme oder erweiterte didaktisch-methodische Szenarien? Fremdsprachenunterricht in Zeiten des digitalen Wandels. In: Burwitz-Melzer, Eva; Riemer, Claudia; Schmelter, Lars (Eds.): Das Lehren und Lernen von Fremd- und Zweitsprachen im digitalen Wandel. Arbeitspapiere der 39. Frühjahrskonferenz zur Erforschung des Fremdsprachenunterrichts. Tübingen: Narr, 68-79.
Goffman, Erving (1986): Einleitung. In: Goffman, Erving: Interaktionsrituale. Frankfurt/Main: Suhrkamp, 7–9.
Imo, Wolfgang (2013): Sprache in Interaktion. Analysemethoden und Untersuchungsfelder. Berlin: De Gruyter.
Ohm, Udo (2007): Informationsverarbeitung vs. Partizipation: Zweitsprachenerwerb aus kognitiv-interaktionistischer und soziokultureller Perspektive. In: Eßer, Ruth; Krumm, Hans Jürgen (Eds.): Bausteine für Babylon. Sprache, Kultur, Unterricht: Festschrift zum 60. Geburtstag von Hans Barkowski. München: Iudicium.
Samstag, 6. November 2021, 11:15 Uhr
Melanie Brinkschulte (Göttingen) & Swetlana Meißner (Göttingen)
Einsatz von Netzdiagrammen in autonomen Fremdsprachenlernprozessen
Die Universität Göttingen bietet für Studienanwärter*innen unterschiedlicher Herkunft begleitend zu studienvorbereitenden Deutschsprachkursen Sprachlernberatungen an. Diese Sprachlernberatungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie Ressourcen der Lernenden wie z.B. Sprachlernbewusstheit sowie Lernstrategien aktivieren und deren Reflexionsprozesse beim Fremdsprachenlernen anregen. Damit können die Ratsuchenden auf den Sprachniveaus A1 bis C1 (GER) individuelle Lernwege für sich entdecken und Möglichkeiten für die Ausgestaltung eigener Lernprozesse für sich wirksam machen. Die Sprachlernberatungen sind für angehende Studienanwärter/innen freiwillig und werden von fortgeschrittenen Studierenden durchgeführt, die zuvor eine Peer-Berater*innen-Ausbildung absolviert haben.
Die Sprachlernberatungen mit dem Schwerpunkt ‚Lernstrategien‘ werden in Form einer explorativ-interpretativen Mixed Method-Begleitstudie analysiert, um den Ratsuchenden aufzuzeigen, wie sie das eigene Handlungsrepertoire an Sprachlernstrategien effektiv nutzen und individuelle Lernprozesse bewusst(er) gestalten können. Die Audioaufnahmen von Ratsuchenden, die an mindestens drei Beratungssitzungen teilgenommen haben, werden selektiv transkribiert und im Hinblick auf die Thematisierung und den Einsatz von Sprachlernstrategien gesprächsanalytisch und qualitativ inhaltsanalytisch ausgewertet. Um die Lernwege der Ratsuchenden und dessen Handlungsrepertoire an Sprachlernstrategien zu visualisieren, werden inhaltliche Strukturierungen in Form von Netzdiagrammen genutzt. Diese Netzdiagramme, die (Nicht-)Übernahmen von Lernstrategien verdeutlichen, können als didaktische Instrumente für die Sprachlernberatungen und für die Aus- und Fortbildung von Sprachlernberater*innen eingesetzt werden.
Damit handelt es sich bei dieser Auswertungs- und Darstellungsmethode um ein Verfahren, das für Längsschnittstudien einen Verlauf der Übernahme und individuellen Nutzung von Lernstrategien aufzuzeigen vermag. Mit dieser Methode kann sicherlich kein umfassendes Spektrum vorhandener oder genutzter Lernstrategien nachgezeichnet werden. Sie kann auch nicht veranschaulichen, wie nachhaltig ein*e Ratsuchende*r bestimmte Lernstrategien nutzt. Dennoch ermöglicht diese Methode überblicksartig, einen Verlauf und subjektive Einschätzungen verwendeter Lernstrategien von Seiten der Ratsuchenden abzubilden. In Querschnittsstudien erlaubt der Vergleich von Netzdiagrammen einen Abgleich von Sprachlernberatungen in ihren Abläufen. Daraufhin können mit gesprächsanalytischen Verfahren detaillierte, zielgerichtete Analysen folgen, wie in bestimmten Sequenzen von Ratsuchenden und Berater*innen kommunikativ gehandelt wurde. Diese Analysen wiederum dienen einer an der Beratungsrealität ausgerichteten Aus- und Fortbildung von Sprachlernberater*innen, um diese mithilfe authentischer Materialien auf diverse kommunikative Situationen vorzubereiten, so dass sie professionelles Handeln in Sprachlernberatungen erlernen können.
In dem Vortrag werden wir die Vorgehensweise in der Datenauswertung anhand ausgewählter audiographierter Sprachlernberatungen mit dem Schwerpunkt ‚Lernstrategien‘ darstellen, um im Anschluss auf Potentiale und Grenzen der Netzdiagramme sowie auf didaktische Implikationen für die Sprachlernberatungen und für die Aus- und Fortbildung von Sprachlernberater*innen einzugehen.